Harald Dülfer
Glanz und Niedergang des Thalia-Theaters
Am Island schweigen die Musen
Vergnügungszentrum muß Sparkassen-Hochhaus weichen
Die große NRZ-Serie
Das Schicksal des Thalia-Theaters ist endgültig besiegelt! Im Herbst werden sich die gewaltigen Flügeltüren des Musentempels hinter den letzten Besuchern schließen. Im sechsten Jahrzehnt seines Bestehens wird dieses Wahrzeichen der Stadt mit Spitzhacken, Preßlufthämmern und Rammböcken in einen Trümmerhaufen verwandelt.
Nur noch wenige Monate wird die Silhouette des Theaters Einheimische und Besucher auf eine Stätte hinweisen, die einst in einem Atemzug mit den größten Vergnügungs-Etablissements der Welt genannt wurde, mit der Scala, dem Wintergarten, dem Paladium und dem Casino de Paris. Nur noch ein paar rasch vergilbende Postkarten und Fotos werden dann noch an die Auftritte eines Grock, der Rivels, eines Rastelli, den Tiller-Girls, der Filmlieblinge Hans Albers, Otto Gebühr und der Operettenstars Jan Kiepura und Martha Eggerth im Thalia-Theater erinnern. Das Bild des Islandufers, einst gekennzeichnet von einer Vielzahl attraktiver Vergnügungsstätten und Lokale gepflegter Gastlichkeit wird künftig von einem »zeitgemäßeren« Bau beherrscht, von einem Hochhaus und seinen supermodernen Nebenräumen, in denen sich die Stadtsparkasse etabliert.
Bevor aber das Thalia-Theater seinen Todesstoß empfängt, bringt die NRZ zum ersten Mal die vollständige Geschichte dieses Hauses, berichtet über die dramatischen Höhepunkte, die tragischen und komischen Ereignisse, die sich mit dem Namen eines Theaters verbinden, das in dieser Form leider niemals wieder erstehen wird!
Groß war die Erschütterung, als die erste Nachricht vom unabdingbaren Abriß dieses Hauses durch die Zeitungen ging. Heftig war auch die Reaktion des Publikums, dessen Liebe unverbrüchlich ist, auch wenn sie sich nicht mehr in Rekord-Besucherzahlen auswirkte und dadurch allein die Existenzgrundlage hätte sichern können. Ein honoriger Geschäftsmann kündigte spontan sein sechsstelliges Konto bei der Stadtsparkasse, weil er einfach nichts mehr mit einem Institut zu tun haben wollte, das »seinem« Thalia-Theater das Lebenslicht ausblies. Er wurde erst in dem Augenblick wieder Kunde, als ihm nachgewiesen wurde, daß dieses Theater nicht abgerissen werden muß, weil die Stadtsparkasse aus allen Nähten platzt und die Stadt sich von der Überlassung des Grundstücks an ein so kapitalkräftiges Unternehmen mehr verspricht, sondern weil ein 2000-Plätze-Theater nach dem Untergang der Ufa und nach dem Schwinden der Zugkraft eines anspruchsvollen Varietés einfach nicht mehr zu halten ist.
1906 wurde das große weiße Haus am Islandufer mit hochfliegenden Plänen von Direktor Stein eröffnet. Er schuf ein Operettenhaus, das bald schon weit über die Stadtgrenzen Beachtung fand. Die »siamesischen Zwillinge« Barmen und Elberfeld waren gleichermaßen stolz auf dieses Theater.
In die »Provinz« kam erstmals ein Hauch der »großen Welt«, als berühmte reisende Ensembles im Thalia gastierten. Selbst die Wiege des Nordwestdeutschen Rundfunks stand hier. Kein Artist von Weltruf verschmähte es, auf dieser Bühne zu erscheinen. Für viele war ein Erfolg im Thalia gleichbedeutend mit einer Weiterverpflichtung an die berühmtesten Varietés. Als Uraufführungstheater zog das Haus über viele Jahre hin die Filmfreunde der weitesten Umgebung an. Matineen und Großveranstaltungen verschiedenster Art machten die Stätte der leichten Muse immer populärer. Zeitweilig verdunkelte der Glanz der Thalia-Inszenierungen die Aufführungen im Stadttheater.
Selbst nach dem zweiten Weltkrieg gelang ein hoffnungsvoller neuer Anfang: Wieder gastierten auf der Bühne Spielgemeinschaften, die einen zweiten Frühling der Operette in Form des anderen Orts so erfolgreich gepflegten modernen Stils verhießen, dessen Krönung das kassen- und publikumssichere Musical wurde. Aber zu einer Musical-Bühne vermochte das inzwischen an den Ufa-Konzern gebundene Theater nicht mehr zu werden. Die Entwicklung war einfach über die Möglichkeiten hinweggegangen, die ein Privatmann – vielleicht – in diesem Haus zu nutzen gewußt hätte.
Mit dem Verzicht auf die 1929 von Robert Riemer so erfolgreich praktizierte Kopplung zwischen Großfilm und Weltstadt-Varieté-Theater verlor das Thalia seine letzte Anziehungskraft. Die »vorletzte« hatte es in dem Augenblick verloren, als es nicht mehr möglich war, jede Woche einen Film aufzuführen, der exklusiv und publikumssicher war. In einer Stadt, die gemessen am Angebot der Kinoplätze und ihrer Ausnutzung zu den kinomüdesten Gemeinden der Bundesrepublik geworden ist, bedeutete ein 2000-Platz-Theater, das nicht einmal mehr mit dem Vorteil erfolgssicherer Filme aus eigener Konzernproduktion aufzuwarten vermochte, eine Belastung, der man sich lieber heute als morgen entledigt.
Noch eine Chance bestand, um wenigstens das Haus – wenn auch schon nicht die Bühne – vor dem Abbruch zu bewahren: Da das städtische Schauspielhaus an der Bergstraße den feuerpolizeilichen Vorschriften seit langem und trotz vieler Behelfsmaßnahmen nicht mehr entspricht, hätte das Thalia zum Wuppertaler Stadttheater für das Schauspiel umgebaut werden können. Die Sachverständigen-Gutachten waren jedoch so vernichtend, daß der Stadtrat nach langer Diskussion auch diese letzte Möglichkeit, das Haus am Islandufer zu retten, verwarf, und sich für einen Theaterneubau auf dem Gelände von Schlieper und Baum in der Wupperschleife zwischen Döppersberg und Landgericht entschied.
Die gesellschaftlich und künstlerisch glanzvolle Zeit, da Operette, Film und Varieté die Stelle des modernen Massenmediums Fernsehen einnahm, ist unwiederbringlich dahin! – Ein paar Monate noch, dann schließt das Thalia-Theater für immer seine Pforten. – Ein paar Jahre später und nur noch die Alten wissen, das es eine Zeit gab, an der am Island nicht nur mit Geld und Macht, sondern mit Kunst und Publikumsgunst gehandelt wurde.
Das war Elberfeld
im Jahre 1906