Harald Dülfer
Glanz und Niedergang des Thalia-Theaters

Großer Triumph der Operette
Anni Lehner lagen alle Fans zu Füßen
5. Folge

Mit dem Varieté erfolgte der glanzvolle Start des Thalia-Theaters, mit der Operette festigte sich der Ruf des Hauses als Stätte der leichten Muse. Während des ersten Weltkrieges ging der Stern der charmanten Wienerin Anni Lehner auf. Das grazile Persönchen hatte eine unwahrscheinliche Strahlungskraft, »ihr Sopran dringt direkt ins Herz«, wie eine ihrer Verehrerinnen ins Poesiealbum schrieb. Die große Zeit der rauschenden Operetten-Inszenierungen beginnt. Sechs Jahre lang bleibt Anni Lehner die Diva des Hauses. An den Kassen des Theaters wird das Bild der temperamentgeladenen Sängerin mit den Eintrittskarten verkauft und nach jeder Vorstellung drängen sich immer mehr Verehrer am Bühnenausgang, um ein Autogramm »ihrer Anni« zu bekommen.

Rasch sprach sich die Lebensgeschichte dieser jungen Operettensängerin herum. Als Tochter eines fleißigen, aber armen Fabrikarbeiters wuchs sie in Wien auf. Mit zehn Jahren mußte sie bereits ihre beiden jüngeren Geschwister versorgen. Aber sie ließ sich nicht unterkriegen.

Die Lust am Verkleiden, am Theaterspielen, am Singen und Tanzen saß der kleinen »Anuschka«, wie sie von der Mutter zärtlich gerufen wurde, im Blut. Der sonst so trübe Hinterhof ihres Wohnhauses wurde ihr zur »Bühne«, wenn sie in einem unbewachten Augenblick mit den Kleidern der Mutter kostümiert für die gaffenden Nachbarskinder eine temperamentvolle Solo-Vorstellung gab.


Wie im Märchen

Daran änderte sich auch nicht viel, als ihr Vater zwei Jahre später starb und die Mutter nun das Geld für den Lebensunterhalt verdienen mußte, während Anuschka im Haus für Ordnung zu sorgen hatte. Kaum der Schule entwachsen hieß es natürlich auch für sie Geld zu verdienen. Zwei Jahre lang arbeitete sie als Krankenschwester, aber sie konnte kein Blut fließen sehen.

Wie ein unwirkliches Märchen erschien ihr deshalb der beseligende Walzertraum, den sie mit 17 Jahren in Sternberg in Böhmen im Arm eines jungen Schauspielers auf einem Maskenfest tanzen durfte. Einen Augenblick vergaß sie alles, was sie bedrückte, und sang unbekümmert, hell und strahlend »Leise, ganz leise, klingts durch den Raum, selige Weise, ein Walzertraum«. Dem Schauspieler und allen, die ungewollt zu begeistert applaudierenden wurden, verschlug es die Sprache. Erst nach langer Pause meinte der Schauspieler: »Wo das Gesichterl so hübsch ist wie die Stimme, kleines Fräulein, sollten sie zum Theater gehen.«


»Komm, Maderl«

Er ließ es nicht bei Worten bewenden, sondern stellte seine Neuentdeckung dem Intendanten des Stadttheaters Sternberg vor. Noch einmal vertraute sie dem Zauber jenes wundersamen Walzertraums und sang »Komm in den blühenden Garten ...«, etwas zaghaft klang das Stimmchen ja noch, aber mitgerissen vom eigenen Temperament, festigte sich der Klang, bis er rein und schwingend den allgewaltigen Intendanten aufstöhnen ließ: »Joi, joi, wie ist das bloß möglich! Hast schon mal Gesangsunterricht gehabt? Nein, sagst? Komm, Maderl, wir machen Vertrag«.


Lob der Schmiere

Und so war die noch ganz verwirrte, walzertraumselige Anni Lehner, eh sie sich's versah, als Chordame engagiert. Rasch kamen die ersten kleinen Erfolge, Theaterreisen durch Österreich und die Tchechoslowakei. Es war eine gute alte »Schmiere« und sie bekam ihr großartig, sie spielte sich frei und griff beherzt zu, als man ihr ein Engagement an die bedeutendere Bühne in Reichenberg anbot. Dort traf sie mit Erich Ponto zusammen und hatte ihren ersten ganz großen, mit 30 Gulden honorierten Auftritt als »Germaine« in »Die Glocken von Corneville«. Obwohl sie noch immer keine Gesangsstunden genommen hatte, sondern nur aus dem Gefühl heraus agierte, gelang ihr der Sprung nach Magdeburg. Als »Veilchenmädel«wurde sie derartig mit Blumen und Geschenken überschüttet, daß sie eine Droschke bestellen mußte, um die Pracht in ihr bescheidenes Zimmer transportieren zu lassen.


Hier blieb sie

1917 taucht »die Lehner dann plötzlich in Wuppertal auf. Es sollte ihre letzte Station werden, denn zwei Jahre nach ihren rauschenden Erfolgen starb ihre Schwester, an die sie ihr ganzes Herz gehängt hatte.

Sie konnte sich nicht mehr von diesem Wuppertal und seinem Thalia-Theater trennen und erlebte so den rauschenden Erfolg der großen Operettenzeit wie ihren unaufhaltsamen Niedergang mit.

Die Direktoren Arnold und Bars sparten weder an Ausstattung noch an Gage, um jede Operetten-Inszenierung zu einem neuen gesellschaftlichen Ereignis und Erlebnis für das ganze Bergische Land werden zu lassen. Schon mit ihrem Auftritt in »Hoheit tanzt Walzer« ist das Eis gebrochen. Die Herzen der Wuppertaler fliegen der charmanten Wienerin zu. »Man« geht bald schon ins Thalia, nur um die Lehner zu sehen und zu hören. Jeder Einkaufsbummel wird zum Spießrutenlaufen, denn Anni Lehner ist »bekannt wie ein bunter Hund«. Jeder will ihr einmal die Hand drücken, ein Autogramm bekommen, ihr sagen wie gut ihm die letzte Operette gefallen hat.


Wie eine Lerche

Die Erfolge jagen sich! »Die Dame vom Zirkus«, – »Soldat Marie«, – »Drei alte Schachteln« – »Eva«, – »Die Czardasfürstin«, – »Die Faschingsfee«, – »Die Kaiserin« und immer wieder der »Walzertraum« treiben den alten Wuppertalern, die jene Zeit miterlebten, noch heute Tränen der Rührung und der Erinnerungsfreude in die Augen. Jahrelang war Anni Lehner für sie die »Wiener Lerche«.

Baronin von der Heydt schenkte ihr einen kostbaren Mantel, der Oberbürgermeister ein riesiges Blumenarrangement. »Sie haben eine wunderbare Stimme«, meinte er mitgerissen von seiner eigenen Begeisterung, und die Gassenjungen pfeifen die neuesten Melodien, die sie gerade erst populär gemacht hat.


Einmalige Stimme

Der rauschende Erfolg hält auch unter Direktor Werner und Lischka-Raoul an. Zeitweilig sind fünf Wiener engagiert. Die oft mit ihr auftretende Soubrette Kitty Lessing schildert ihre erste Begegnung mit der Landsmännin in Elberfeld: »Als ich zum ersten Mal das Theater aufsuchte, es war an einem Morgen, hörte ich von der Bühne her eine Stimme, die so unwirklich klang, daß man nicht glauben konnte, sie gehöre einem Menschen. Es war, als sänge eine Lerche. Heiterkeit, Leichtigkeit und natürlicher Zauber schwangen in dieser Stimme mit.

»Ein Kabinettstück! Eine solche Müllerin hat es auf der Bühne noch nicht gegeben, hieß es 1923 in der Düsseldorfer Presse. Zwei Jahre lang sang sie in der Landeshauptstadt unter der Direktion der Charlotte Susa. »Das Dorf ohne Glocke« brachte ihr diese Lobeshymne ein. Ausgezeichnet besprochen aber wurden auch die Inszenierungen der damals gern gespielten Operetten »Des Königs Nachbarin« und »Die lustige Witwe«.


Auch im Funk

Bis 1933 wurde der Name Anni Lehner immer wieder voller Bewunderung genannt. Durch den Rundfunk erklang ihre immer noch strahlend helle Stimme, faszinierte der Wiener Charme und das überschäumende Temperament dieser kapriziösen Frau, der die Jahre anscheinend nichts anzuhaben vermochten.

Genauso überraschend aber, wie der Stern der Anni Lehner am Thalia-Himmel aufging, verlosch er auch wieder. Nur wenige hatten noch Zeit und Lust, den Schicksalsweg ihrer einst so stürmisch gefeierten Operetten-Diva zu verfolgen. Anni Lehner mußte wie Tausende anderer Frauen im »totalen Krieg« die Bühne und ihr gleißendes Scheinwerferlicht mit der sorgsam verdunkelten Fabrikhalle vertauschen. Sie wurde 1943 beim Bombenangriff mit mehreren Familien in ihrem Haus an der Gesenbergstraße lebendig begraben und erst zehn Stunden später aus den Trümmern befreit, die eine Luftmine von ihrem Heim übriggelassen hatte.

Bei diesem Luftangriff verlor die wohl populärste Operettensängerin des Tales endgültig ihre Stimme. Einsam und vergessen, krank und kärglich von der Wohlfahrtsunterstützung lebend starb sie 1962 in einem Elberfelder Altersheim.

Sie lesen Samstag:
Die Geschichte des charmantesten Chansonniers von Wuppertal