Harald Dülfer
Glanz und Niedergang des Thalia-Theaters

Gäste landeten im Biertunnel
Es regnete Blumen und hagelte Ohrfeigen
Die vierte Folge

Es regnete Blumen und es hagelte »Ohrfeigen« an diesem vertrackten 13. Dezember 1906, dem Tag nach der glanzvollen Eröffnung des Thalia-Theaters am Islandufer. Umringt von Arrangements, die ihm mit ihrem betörenden Duft die Luft zum Atmen rauben, brütet Direktor Martin Stein über den ersten vernichtenden Zeitungskritiken und den Stapeln einlaufender Beschwerden verärgerter Besucher: Prominente fühlen sich zurückgesetzt, Festgäste bemängeln die schlechte Sichtmöglichkeit von einigen Plätzen aus und die ärgerliche Garderobenschlacht nach dem Ende der Vorstellung. Das Barometer steht an diesem Tag auf Sturm. Nichts ist dem frischgebackenen Herrn Direktor rechtzumachen. Es gilt die »Kinderkrankheiten« im Aufgalopp zu überwinden.

Dabei hatte der Eröffnungstag so hoffnungsvoll begonnen! »Tout Elberfeld war da, selbst diejenigen von den oberen – na sagen wir 300 – die für das Stadttheater nichts übrig haben und die dort den ersten Rang so hübsch füllen könnten, hatte der große Tag in das Theater der leichtgeschürzten Muse gelockt«, resümiert der Kollege von den »Neuesten Nachrichten«. Von 16 Uhr an fuhren die Neugierigen am 12. Dezember in Karossen heran oder wälzten sich zu Fuß zum neuen Islandufer, das bald so von Schaulustigen erfüllt war, daß sich die Geladenen kaum bis zum Portal durchzwängen konnten.


Wo ist mein Platz?

Man trug Festgarderobe, genoß das ungewohnte gesellschaftliche Spektakel und erging sich, »soweit man zur Gesellschaft gehörte«, in den verschiedenen Räumen des Hauses, um sich dann »nach guter deutscher Sitte bei einem reichlichen Imbiß für die Vorstellung zu stärken«. Dabei aber passierte die erste peinliche Panne. Vergeblich suchte der Chronist seinen Platz »in der illustren Reihe derer, für die der eigentliche Festsaal reserviert war. Aber alles, was nicht zur Gesellschaft gehört – Stadtverordnete, Presseleute, Beamte und dergleichen –, bildete unten im Biertunnel eine fröhliche Runde, in der man sich erzählte, der Herr Oberbürgermeister Funck habe oben gesagt, die eigentliche Metropole des Bergischen Landes sei jetzt Elberfeld-Barmen geworden, und Elberfeld und der lieben Nachbarstadt Barmen gehöre daher dieser Tempel der heiteren Muse, der unter Leitung von Martin Stein einer glanzvollen Zukunft entgegenginge«.


Den Hals verrenken

Knochenhart aber kam dann die Kritik: Die auf siebeneinhalb Uhr angesetzte Premiere verzögerte sich um fast eine Stunde, weil sich die »illustren Gäste« zuviel Zeit gelassen hatten; das Podium der Bühne liege zu tief, so daß sich die in der Mitte des Parketts sitzenden Zuschauer den Hals verrenken müßten; die Garderobenfrauen waren nicht in der Lage, die Gäste nach Schluß ordnungsgemäß zu bedienen, viele Garderoben wurden vertauscht. Stein wußte, wie recht die aus Verärgerung geborene Kritik war. Die Anhebung der Bühne um rund vierzig Zentimeter überließ er aber einem seiner berühmtesten Nachfolger: Robert Riemer.


Zwölf Nummern

Die Schönheitsfehler störten nicht die Begeisterung über das Eröffnungsprogramm, in dem zwölf große Nummern vereint waren. Am Dirigentenpult der 30 Mann starken Kapelle stand Max Winterfeld, der später als Operettenkomponist Jean Gilbert Weltberühmtheit erlangte. Der MGV Colombey sang im akustisch hervorragenden Theater unter Edmund Siefer (Köln) die »Hymne an die Kunst«. Das Rakczy-Sextett bot ungarische Tänze und Gesänge, die Gebrüder Darras verblüfften durch einen Kopfstand auf voll ausschwingendem Trapez. Tränen lachten die Wuppertaler über die komischen Jongleure Sterzelli und Moore und die Grotesktänzer Wallno und Mariette. Die »Drei Seldoms« stellten lebende Bilder nach Professor Begas’ (Berlin) Plastiken. Volltreffer aber war der Auftritt der am Wupperstrand bereits heiß und innig geliebten Parodistin Lene Land. Sie war unbestreitbar der erste große Star und Publikumsliebling des Hauses. Und sie blieb es lange, trotz schärfster internationaler Konkurrenz.


Kakadu schlug Salto

40 farbenschillernde dressierte Kakadus wurden von den Geschwistern Belloni vorgeführt (Clou: mehrfacher Salto mortale rückwärts). Das Paar Vittorio Giorgetteo zog, auf den Händen laufend, einen vollbesetzten Wagen, Imro Fox erwies sich als Magister der Zauberer, und die Obersteirer brachten gemütvolle Lieder folkloristischen Charakters, die Fezzan-Araber-Truppe baute Pyramiden, Humorist Walter Stein tappte mit einigen allzu freien Couplets ganz leicht ins Fettnäpfchen und mit der Schlußnummer bahnte sich bereits der Siegeszug einer neuen Muse an, die in mehrfacher Hinsicht schicksalhaft für das Thalia werden sollte: In einer kinematographischen Vorführung wurde ausgerechnet den Wuppertalern – eine Schwebebahnfahrt vorgeführt, die gleiche, die sie wenig später selbst antraten.

Wie dieses Programm die Freunde des Varietés im ganzen Bergischen Land begeistert hat, stellte sich noch Jahrzehnte später heraus. Genau gesagt am 13. Dezember 1950. Da traf nämlich bei der Thalia-Direktion ein Brief eines Herrn Erich Jünger aus Remscheid-Lüttringhausen ein, der eine Eintrittskarte vom 23. Dezember 1906 einsandte. Erich Jüngers Vater hatte sich am Sonntag dem 23. Dezember 1906 als vorweihnachtliche Freude bei seinem Ausflug ins großstädtische Elberfeld einen Klappsitz auf dem dritten Rang gegönnt und dort staunend die Wunderwelt des Varietés erlebt. Diese Karte, einschließlich der Steuer für 75 Pfennig erworben, war ihm so teuer, daß er sie stets im Notgepäck beider Weltkriege aufbewahrte.

Wie dieses Programm die Freunde des Varietés im ganzen Bergischen Land begeistert hat, stellte sich noch Jahrzehnte später heraus. Genau gesagt am 13. Dezember 1950. Da traf nämlich bei der Thalia-Direktion ein Brief eines Herrn Erich Jünger aus Remscheid-Lüttringhausen ein, der eine Eintrittskarte vom 23. Dezember 1906 einsandte. Erich Jüngers Vater hatte sich am Sonntag dem 23. Dezember 1906 als vorweihnachtliche Freude bei seinem Ausflug ins großstädtische Elberfeld einen Klappsitz auf dem dritten Rang gegönnt und dort staunend die Wunderwelt des Varietés erlebt. Diese Karte, einschließlich der Steuer für 75 Pfennig erworben, war ihm so teuer, daß er sie stets im Notgepäck beider Weltkriege aufbewahrte.

Ein Skandal (Leserbrief)

Eine spontane Reaktion auf die NRZ-Serie. Trotz der Feststellung, daß das Thalia-Theater nicht mehr zu halten war, überwiegen Trauer, Empörung und Nichtverstehen. Werner Muthmann schreibt:

Der NRZ sei Dank für ihre sich mit dem Glanz und Niedergang unseres Thalia-Theaters befassende Artikelserie! Allen altansässigen Wuppertalern wird bereits Ihr erster Beitrag einen Ausdruck lebhaften Bedauerns über diese Maßnahme entlockt haben. Was von den sogenannten Sachverständigen zu halten ist, hat uns u.a. das Tauziehen um das Bergstraße-Schauspielhaus bewiesen: Einmal als Menschenfalle Hals über Kopf geschlossen, gilt es jetzt mit seiner Hühnersteige als »sicherstes Theater der Welt«. Hätte da mit einigermaßen gutem Willen nicht unser Thalia doch gerettet werden können? Mit vollem Recht hält der einstige Leiter des zum Untergang verurteilten Theaters, Robert Riemer, unseren für das Wohl unserer Vaterstadt Verantwortlichen einen ebenso erschreckenden wie kostspieligen Mangel an mutig-schöpferischen, konstruktiven und nicht destruktiven Ideen vor! Trotz eines gewissen Verständnisses für die als Entschuldigung so gern zitierte Notwendigkeit eines Sparkassenneubaus wird jeder traditionsbewußte echte Wuppertaler in den kommenden Jahren mißmutig kopfschüttelnd an der Straße vorbeigehen, die Zeugnis ablegte von einer großen kommunalpolitischen und künstlerischen Vergangenheit.

Sie lesen Freitag:
Anni Lehner lagen alle Operetten-Fans zu Füßen