Harald Dülfer
Glanz und Niedergang des Thalia-Theaters
Artistenjagd rund um die Welt
Noch einmal kamen die großen Stars nach Wuppertal
Die 16. Folge
Der Musikalität der Wuppertaler trug auch Robert Bartholomay Rechnung, der am 29. September 1950 das »weiße Haus am Islandufer« eröffnete. Links der Bühne installierte er eine Walker-Orgel mit fast 5000 Pfeifen, über 70 Registern und drei Manualen, deren Klangfülle und Klangreichtum die Besucher von Vorstellung zu Vorstellung mehr begeisterte. Als dieses Instrument drei Jahre später – vor der Übernahme des Hauses durch den Ufa-Konzern – ausgebaut wurde, genügten geringe Zusätze, um drei Kirchenorgeln daraus zu gewinnen. Professor Bachem, der Kölner Domorganist, hatte diese Möglichkeit frühzeitig erkannt und sich das Instrument für Gotteshäuser innerhalb des Erzbistums Köln gesichert. Dort klingen die Orgeln, die einst nur der Unterhaltung dienten und die oft artistische Virtuosität ihrer Spieler verrieten, heute noch zum Lobe Gottes und zur Untermalung des Gottesdienstes.
Die Stärke des Hauses ist die Kopplung des großen Bildwerferraumes, von dem aus durch waagerechte Projizierung gestochen scharfe und helle Bilder auf die 40 qm große Bildwand geworfen werden können, mit einer Ton-Großanlage, die in Verbindung mit der einst vielgerühmten und erneut erreichten Thalia-Akustik die letzten Feinheiten der Musik und Sprache übermittelten.
Eine gewaltige technische Einrichtung ist für dieses Haus notwendig. Das allein aber hätte nicht genügt, wenn nicht die erste Forderung dieser motorisierten Zeit erfüllt worden wäre: Im »Bannkreis« des Theaters stehen 200 Parkplätze zur Verfügung. Der Erfolg stellt sich bereits nach wenigen Monaten ein. Als am 31. Dezember 1951 das erste volle Geschäftsjahr abgeschlossen wird, ergibt sich folgende stolze Bilanz: Rund eine Million Besucher, zwei Millionen Umsatz, 500 000 DM vertragsgerecht abgeführte Film-Leihmieten belegen die wiedererrungene Beliebtheit dieses traditionsreichen Theaters des Bergischen Landes. Zu dieser Zeit wird auch der Ausbau des modernen Thalia-Hotels im Nebenflügel (dem Restaurations- und Festsaal-Trakt der Gründerjahre) vorangetrieben.
Bartholomays Erfolgrezept ist einfach aber sicher: Er hat ein Operettenhaus in Hamburg und Finanzreserven, um auch schwierige Zeiten durchzustehen, und er hat mit diesem Haus ein Objekt in der Hand, das seine Anziehungskraft nicht nur auf die internationalen Varieté-Künstler ausübt, sondern auch für die Filmverleiher interessant ist. So kann er weitgehend der tückischen Block- und Blindbuchung von Filmen, die er selbst gar nicht gesehen hat, entgehen und sich Terminfreiheit für herauskommende große Filme und Gastspiele sichern.
Noch etwas aber hatte Bartholomay getan: Er hatte den langjährigen Varieté-Experten Werner Kraft als Leiter der attraktiven Bühnenschau engagiert. Nach der kriegsbedingten Unterbrechung und den schweren Nachkriegsjahren steigt Werner Kraft, der dem Haus seit 1932 verbunden ist, mit wahrem Feuereifer wieder in die geliebte Arbeit. Mit dem Düsseldorfer Hans Tenno, einem der führenden Varieté-Agenten Europas, startet er 1953 eine Rekordreise: In 30 Tagen durch siebzehn Länder Europas. Die spanische Nachtigall »Nati Mistral«, die bald schon im Thalia wahre Begeisterungsstürme entfacht, ist sein wertvollstes "Mitbringsel". Zahlreich sind die Verträge, die auf dieser Reise abgeschlossen wurden, groß aber ist auch das Arbeitspensum, das in Deutschland geleistet werden muß, um die günstigsten Kontrakte mit den neuen Stars der Bühne unter Dach zu bringen.
Für Werner Kraft ist dieser Europa-Trip unvergeßlich, denn um ein Haar wäre es sein letzter gewesen: Wild pocht Tenno nach einer durchbummelten Nacht an die Tür des spanischen Appartements, in das sich Kraft erst wenige Stunden zuvor zurückgezogen hat: »Steh auf, du Schlafmütze, sonst kriegen wir nie im Leben unser Flugzeug«;. Aber erst zwei Stunden später sind sie auf dem Flugplatz, um die nächste Kursmaschine von Madrid nach Barcelona zu besteigen. Tenno spricht mit seinem Freund kein einziges Wort. In Barcelona aber werden erst der Paßbeamte und dann Tenno leichenblaß: »Madre de dios – das vorige Flugzeug, für das sie gebucht hatten, ist in der Luft explodiert, 49 Tote«.
Nach Hause zurückgekehrt, bleibt kaum die Zeit, Reiseerinnerungen in Freundeskreisen auszutauschen, gerade daß die vielen Fotos noch entwickelt und lose geordnet werden, denn das Schaugeschäft ist hart geworden. Ringsum beginnt es in den weltberühmten Vergnügungsetablissements zu kriseln. Zwar ist mehr Geld unter den Leuten als Jahre zuvor, aber die Ansprüche des Publikums sind kaum noch zu erfüllen. In mancher Woche rauft sich Werner Kraft die Haare: »Woher soll man nur für jedes Programm eine neue Sensation hernehmen, etwas, das überhaupt noch nicht da war?« Er war mit seinen Artisten verwachsen, er litt mit ihnen, wenn eine Nummer, die in fünf oder sechs Jahren gewachsen war, plötzlich von einem anderen Team kopiert und begeistert gefeiert wurde. Und er brachte es fertig, die Varietémüdigkeit breiter Besucherkreise immer wieder zu überwinden.
Ein Beispiel dafür ist »Unus«; der schmächtige Wiener Franz Furtner, der sich mit Recht der »Einzige« nennen darf, denn niemand macht ihm seinen Einfingerstand – ohne Tricks und doppelten Boden – nach. In einem Interview erklärt der blondgelockte bescheidene Mann: »Auf einem Spaziergang fiel mir ganz plötzlich ein, daß ein Mensch, wenn er nur richtig will, auch auf einem Finger stehen kann. Blödsinniger Einfall – gewiß, aber ich habe so lange probiert, bis es endlich klappte«.
Wie einmalig sein Einfingerstand auf Flaschen, Stäben, Bällen, Ringen war, wie er dabei noch jonglierte, das zeigte sich am deutlichsten an seinen vielen Engagements, die ihn an die Höfe der Maharadschas und arabischer Scheiks führte. Wenn er aber in das schlichte Wuppertal kam, dann bedurfte es keiner illustren Namen, dann war sein schönster Lohn der Beifall »seines« Publikums und der kameradschftlich-derbe Händedruck von Direktor Kraft. »Nett mein Junge, daß du mal wieder bei uns bist, mußt mir heute abend eine Menge erzählen«.
Und dann ging es in den »Kleinen Salamander«, in jenes intime Künstlerlokal hinter dem Thalia-Theater, das zur zweiten Heimat der durchreisenden Künstler und ihrer Freunde geworden war und wo ihre schönsten Fotos mit Widmung an den Wirt die Wände zierten. Hier durften Künstler Menschen sein, der elegante Conférencier, den man in Gedanken nur Austern schlürfen sah, knabberte weltvergessen an einem Kotelettknochen, die »männermordende« Diseuse saß ganz bürgerlich-brav mit einem Strickstrumpf in der Ecke und trank ihren Tee, die arabische Flick-Flack-Truppe löffelte mit verklärten Augen eine Erbsensuppe, und allen gemeinsam mundete das gut gezapfte Bier und der scharfe Korn, der hier ausgeschenkt wurde. Der »Kleine Salamander« gehörte einfach zum Thalia-Theater und zu seinem fahrenden Volk.
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