Harald Dülfer
Glanz und Niedergang des Thalia-Theaters

Selbst Graf Luckner zitterte
Hier schlug die Geburtsstunde des Rundfunks
Die 7. Folge

Max Alter, ein Kapellmeister, der mit den kleinsten Spielgruppen ebenso souverän fertig wurde wie mit den größten Orchestern, die er in den letzten Jahren noch bei den traditionellen Zoo-Konzerten dirigierte, denkt heute noch gern mit einem wehmütigen Lächeln an jene Glanzzeiten der großen Operetten-Inszenierungen im Thalia-Theater zurück. Er kennt zahllose Bühnenepisoden, die sich an Namen wie Zierau und Anni Lehner knüpfen. Aber Trotzdem meint er zu der kurzen Zeitspanne, in der in diesem Theater eine Rundfunkanstalt bestand: „Das war sei schönste Zeit überhaupt – wenigstens für mich.“

Heute ist das alles so selbstverständlich – da genügt längst nicht mehr der große Rundfunkempfänger, auf dem man durch eine winzige Skalenverschiebung die Auswahl zwischen gut einem Dutzend interessanter Rundfunkprogramme treffen kann, heute steht vielfach dieser damals noch als „Wunderding“ bestaunte und unansehnliche schwarze Kasten tot in der Ecke, weil ein neues Medium von der guten Stube Besitz ergriffen hat: das Fernsehen. 1925 ist ein Kopfhörer noch eine vielbegehrte Verbindung zum aktuellen Zeitgeschehen jenseits des eigenen Kirchspiels. In der näheren Umgebung von Wuppertal existierten aber nur Sender in Münster und Dortmund. An ein Kölner Rundfunkhaus dachte noch niemand. Die bescheidenen ersten Schritte dazu mußten erst in Wuppertal getan werden.


Sie haben freie Hand

Aus Schlesien kommend, 1911 als Operettenkapellmeister an das Thalia verpflichtet, hat Max Alter Stars und Direktoren kommen und gehen sehen. Ihn verblüfft es daher nicht allzusehr, als ihm Direktor Eckert mitteilt, daß im weitläufigen Thalia-Komplex künftig nicht nur Begleitmusiken für Stummfilme und Varieté-Attraktionen zu arrangieren seien, sondern daß im großen Festsaal auch komplette Rundfunksendungen aufgenommen werden müßten. Großzügig meinte Eckart: „Das ist zwar Neuland für uns alle, aber ich kann Ihnen wenigstens etwas bieten, nahezu freie Hand bei der Programmgestaltung.“


Station Küllenhahn

Als Max Alter ans Dirigentenpult tritt, sitzen ihm nicht mehr als fünf Musiker gegenüber. Mit ihnen ein Programm aufzubauen, ist selbst für das „Kopfhörerzeitalter“ ein Unding. Nach kurzer Zeit stellt er ein Zwölfmannorchester zusammen, in dem der heute noch in Wuppertal bestens bekannte Lutz Göbel mitwirkt. Mit dieser Spielgemeinschaft, mit der Unterstützung des cleveren Thalia-Direktors und technisch mit der in Küllenhahn in einer Holzbaracke eingerichteten Sendestation schaffte er es, ein vollständiges Programm allen Widerständen zum Trotz von nachmittags bis zur Mitternacht über den Äther zu schicken. Wenn der erste Geiger, der Solocellist oder ein virtuoser Pianist fehlt – Anleihe beim Städtischen Orchester ist rasch gemacht.


Nur Live-Sendungen

Aber welche Schwierigkeiten ergeben sich bei jeder Sendung! Das größte Problem ist das Fehlen fast jeder Kontrollmöglichkeit. Zwar sitzt hinter der Scheibe ein Ingenieur, der in etwa den Ton zu steuern versucht, aber er kann nur mit beiden Armen wedelnd verzweifelt Zeichen geben, wenn etwas schief läuft. Bloß – dann ist es schon zu spät; der Ton – schief oder gerade – ist in dieser Sekunde bereits durch den Kopfhörer zum Empfänger gelangt. Grundsätzlich gibt es nur Live-Sendungen.


Sie hörten sich nicht

In seiner Erinnerung sieht der heute 76jährige immer noch die verzweifelten Gesichter jener Sänger, Redner und Sprecher vor sich, denen allein der Anblick des ungewohnten Mikrofons den Angstschweiß auf die Stirn treibt. Gewohnt, stets im engen Kontakt mit dem Publikum zu stehen, sich unmittelbar auf seine Reaktion einzustellen, hören sie hier im Rundfunkhaus Elberfeld nicht einmal ihre eigene Stimme. Sie singen und sprechen vor eine kahle Wand in ein absolutes Nichts und wissen, daß zur gleichen Zeit Zehntausende den kleinsten „Kipper“, das winzigste Zaudern hören und sicherlich mit einem anderen als wohlwollenden Wort kommentieren. Das macht sie nervös, das läßt selbst die Routiniers der Bühne unsicher werden. Mit flackernden Augen irren ihre Blicke zwischen Kapellmeister und Ingenieur hin und her.

Diese „Mikrofonangst“ packt selbst den unerschrockensten Renommier-Seehelden seiner Tage, den bärenstarken Grafen Luckner, weithin bekannt als Kapitän der „Seeteufel“ des ersten Weltkriegs, als er nach ungezählten Vorträgen über seine ritterlichen Abenteuer im Aufnahmeraum des Thalia steht. Verzweifelt versucht er den vorangegangenen Faden seines Seemannsgarns wieder aufzugreifen, aber angesichts der erbarmungslosen Nüchternheit verheddert er sich hoffnungslos. Was keiner beim Grafen Luckner vorher und nachher jemals wieder erlebte: Er bringt nicht einmal mehr den Namen des Schiffes heraus! Wer diesen prächtigen Menschen nur einmal in seiner packenden Vortragsart erlebte, wer sah, wie er selbst im hohen Alter noch Telefonbücher zerriß, oder ihn in Hunderten von Rundfunksendungen frisch von der Leber wer erzählen hörte, kann sich ausmalen, was es für ihn damals bedeutete, daß einige seiner ersten Zuhörer Direktor Eckert anriefen und ihn ersuchten, sie künftig „mit dem Gestammel eines Betrunkenen zu verschonen“ und ihnen vor allem nicht „den Bären aufzubinden“, das seien die Worte „ihres Grafen Luckner“ gewesen!


Sendestelle Elberfeld

Niemand draußen weiß, wie es in diesem „komfortablen Rundfunkhaus aussieht. Der große Festsaal des Thalia, der 1906 noch großen Gesellschaften den würdigen Rahmen gab, ist längst unter einer Wolke von Staub und herabblätternden Deckenputz begraben. Die Zeit der rauschenden Bälle ist vorbei. Auch für den angrenzenden kleinen Festsaal finden nur noch wenige Gesellschaften eine Verwendungsmöglichkeit. So ist es für Direktor Eckert ein Geschenk der Technik, daß er diese wenig benutzten Räume für die „Westdeutsche Funkstunde AG Münster, Sendestelle Elberfeld“ als Hausherr zur Verfügung stellen und selbst bei der Programmgestaltung mitwirken kann. Davon profitieren die von ihm engagierten Künstler und für seine Bilanz ist das jüngste Musenkind ein hochwillkommener Ausgleichsfaktor.

Gespart wird aber bei diesem Unternehmen an allen Ecken und Enden. Bisping und Weinlein waren die ersten Rundfunksprecher, die sich unter diesen schwierigen Umständen ihre Sporen verdienten. Berühmt aber wurde der dritte: Rudi Rauher, der mit Karl Wilhelmi und Hans Salcher als einer der „drei lustigen Gesellen vom Reichssender Köln später jeden Samstag eine Massenpsychose auslösen sollte, die jeden Vergleich mit jenem Wirbel 1962 um den fernsehgerechten „Halstuchmörder« aushält.

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Rudi Rauhers Sendungen fegten alle Geschäfte leer.