Harald Dülfer
Glanz und Niedergang des Thalia-Theaters

Die Eröffnung eine Sensation
Die ganze Stadt nahm Anteil an der Premiere
Zweite Folge der Serie

Am Mittwoch, 12. Dezember 1906, um 19.30 Uhr: Wie gebannt starren Tausende auf die verschwenderische Lichterfülle am Islandufer! In der Rekordzeit von 219 Arbeitstagen ist vor ihren Augen das modernste und eleganteste Varieté- und Operetten-Theater des Kontinents buchstäblich aus dem Boden gestampft worden! Direktor Martin Stein startet vor einem illustren Kreis seine erste große »Gala-Vorstellung« im »Thalia-Theater Elberfeld«.

Am Mittwoch, 12. Dezember 1906, um 19.30 Uhr: Wie gebannt starren Tausende auf die verschwenderische Lichterfülle am Islandufer! In der Rekordzeit von 219 Arbeitstagen ist vor ihren Augen das modernste und eleganteste Varieté- und Operetten-Theater des Kontinents buchstäblich aus dem Boden gestampft worden! Direktor Martin Stein startet vor einem illustren Kreis seine erste große »Gala-Vorstellung« im »Thalia-Theater Elberfeld«. Stunden später strahlt der frischgebackene Direktor vor Glück: Einer Brandung gleich flutet der Beifall zur Bühne. Nur kurz ebbt er ab, um mit neuer Heftigkeit hervorzubrechen. Ein strahlendheller Stern am buntschillernden Himmel ist aufgegangen. Und ganz Elberfeld huldigt der glanzvollsten Stätte der leichtgeschürzten Muse Thalia!

Was bedeutet es Martin Stein in diesem Augenblick, daß ihm die Rechte schmerzt von all den kräftigen Händedrücken kernig-bergischer Menschen, die ihm vom frühen Morgen bis in die späten Abendstunden ein herzliches »Glückauf« für sein kühnes Unternehmen wünschten. Für ihn und seine zahlreichen Mitarbeiter werden diese Stunden unvergessen bleiben. Sie blieben es für alle, die diesen Tag miterleben durften!

Kurz war für Martin Stein die Nacht, die dieser glanzvollen Eröffnung des Hauses und der Premierenfeier folgte. Zu gespannt ist er auf das Echo in der Presse. Hastig durchblättert er die noch druckfrische erste Ausgabe der »Neuesten Nachrichten für Elberfeld, Barmen und das Bergische Land«. Er entdeckt eine wahre Hymne, deren Ausmaß jede Norm sprengt. »Auch die Presse ist auf meiner Seite«, seufzt Martin Stein und lehnt sich zufrieden in seinen Sessel zurück.


Der Start gelang

»Mit der Direktion des Thalia-Theaters wurde der auf den verschiedensten Gebieten bewanderte Herr Martin Stein betraut. Unter seiner Führung haben die ersten Varieté-Berühmtheiten des In- und Auslandes die Welt bereist, und auch Elberfeld und Barmen verdanken seiner Vermittlung die Bekanntschaft vieler hervorragender Künstler.«

Das ist sein Entree, die Basis für einen großzügigen Aufbau! Zahllos sind in der Tat die Engagements, die er bereits vermittelt hat. Episoden-Bücher könnte er darüber schreiben, aber daß ihm der Start mit diesem großartigen Haus in Elberfeld derartig gelingen würde, das hätte er nicht einmal zu träumen gewagt.
Begierig liest er weiter. Jeder Satz ein weiteres Lob, eine Bestätigung für die Richtigkeit des Weges, den er eingeschlagen hat: »Er hat sich bemüht, einen Stab erster und bewährter Kräfte heranzuziehen, in dem Bestreben, ein wirkliches Kunstinstitut in dem genannten Rahmen (gemeint war der festliche Glanz und der Komfort des Hauses) zu schaffen«.

Auch seine Ankündigung war sofort wohlwollend publiziert worden: »Im Sommer wird die Operette in das Haus einziehen. Hierfür sind bereits auswärtige Theatergesellschaften von Ruf für Gastspiele gewonnen werden. Als freundlichen Erfolg darf man es wohl bezeichnen, daß es der Direktion gelungen ist, Lehárs’ ‚Lustige Witwe’, die erfolgreichste Operette der letzten Jahre, die ihren Siegeszug überallhin unternahm, zu erwerben. So darf man wohl die Hoffnung haben, daß das Thalia-Theater seinen Platz in dem anregenden, unterhaltungsgewidmeten Leben in Elberfeld und Barmen würdig auszufüllen vermag und auch zum Zuzug von vielen Fremden aus der Umgebung der Schwesterstädte beitragen wird.«


Prüderie überwunden

Wer hätte das einige Jahre zuvor für möglich gehalten? Die Musen hatten es im pietistischen Wuppertal wahrhaftig nicht leicht. Möchten die jungen Mädchen auch keck ihre Köpfe heben und ihren Burschen verliebt zublinzeln, für ihre Mütter galt vielfach noch immer das, was Friedrich Nietzsche 1864 als seinen Eindruck von den Wuppertaler Schönen in einem Satz zusammenfaßte: »An den Frauen, die man sieht, bemerkte ich besondere Vorliebe für frommes Kopfhängen«.

Das hatte auch der handfeste Theatermann Abraham Küpper, ein echtes Elberfelder Original, nicht ganz überwinden können. Aber unter seiner Führung war 1861 das Elberfelder Theater aufgeblüht und hatte manche Musenfeinde umgestimmt. 1888 hatten sich die Stadtväter sogar zum Neubau eines Theaters auf dem östlichen Teil des Brausenwerther Platzes durchgerungen und 1900 auf dem Johannisberg, wo vorher schon ein Sommertheater bestanden hatte, die heute noch unvermindert stark frequentierte Stadthalle errichtet.

Die Kleinkunstbühnen in Elberfeld und Barmen arbeiteten zwar mit recht unterschiedlichem Erfolg, aber sie hatten erreicht, daß auch der »Kleinkunst« nicht mehr der Geruch des Amoralischen anhaftete. Als begeisterte Verehrer besonders der schmetternden Tenöre hatten sich die Wuppertaler sogar zu ausgesprochenen Operettenfreunden gemausert. (Sie sind es tief innerlich auch heute noch, obwohl es allgemein nicht mehr als ganz »fein« gilt, sich zu dieser heimlichen Geliebten zu bekennen.)

So fiel die Eröffnung des Thalia-Theaters in eine der leichten Muse endlich aufgeschlossenen Zeit. Die Elberfelder wußten selbstbewußt, wer sie waren: Kaiser Wilhelm II hatte am 24. Oktober 1900 »höchstselbst« das neue Rathaus am Neumarkt eingeweiht und war mit der Schwebebahn über die Wupper geschaukelt, die Wirtschaft verzeichnete eine auf Unternehmerinitiative, Arbeiterfleiß und Kaufmannsgeist solide begründete Blüte und die Stadt Elberfeld eine Einwohnerzahl von 162 853 (bei der Zählung im Jahre 1905).

Für Martin Stein war es also nur eine Frage der Kalkulation und des Geschicks, seine vielen Verbindungen zu Artisten und Schauspieltruppen in der rechten Weise einzusetzen und den Wuppertalern ein attraktives Großstadtprogramm mit immer neuen Zugnummern und Sensationen zu bieten. Sein schärfster Konkurrent war das Theater mit seinem Operettenrepertoire, sein Vorzug gegenüber den zum Teil sehr leistungsstarken Kabaretts und Unterhaltungs-Etablissements der große festliche Rahmen des Hauses und die fast unbegrenzten technischen Möglichkeiten.

Die Aussattung des Thalia-Theaters übertraf tatsächlich alle Erwartungen. Selbst die größten internationalen »Stars« scheuten bald schon die weiteste Anreise nicht, weil sie wußten, daß sie hier eine ideale Arbeitsstätte und – ein begeisterungsfähiges, aufgeschlossenes Publikum vorfanden, dessen Beifall sie ins nächste Weltstadtprogramm trug.

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Das Haus hätte kein Fürst prunkvoller gebaut