Harald Dülfer
Glanz und Niedergang des Thalia-Theaters

Film - das neue Zauberwort
Eine Idee begeisterte Millionen
Die zehnte Folge

Schon 1929 wurden auch die Musen vom »rasenden Rhythmus der Zeit« und der rapiden Entwicklung der Technik bestimmt. Ein so großes Theater wie das Thalia war jetzt weder als Varieté noch als Operettenhaus lukrativ. Riemer hatte den Gedanken, ein Großfilm-Varieté mit wöchentlichem Programmwechsel und zwei Vorstellungen täglich zu führen. Revuen und Gastspiele brachten zusätzliche Einnahmen, ohne große Unkosten zu verursachen.

Riemer kam zur rechten Stunde. Die »feindlichen Schwestern« Barmen und Elberfeld waren mit ihren »Satelliten-Städten« zur Großstadt Wuppertal unter schweren Geburtswehen vereinigt worden. Der Versuch, Tradition und modernen Geist zu vereinen, lag also in der Luft. Mehr noch: Der Stummfilm hatte die Filzpantinen des Jahrmarkts abgestreift, eine Grete Gustafsohn hervorgebracht, weltberühmt als Greta Garbo, einen Charlie Chaplin und Emil Jannings, und dieser Stummfilm hatte 1929 schon eine eigene Stimme erhalten. Film hieß deshalb das neue Zauberwort des jungen Theaterleiters. Weitschauend engagierte er den filmbegeisterten Emil Weißmann als Leiter dieser neuen Unterhaltungssparte.


Ungewönliche Orgel

Das Festprogramm war faszinierend wegen der modernen Koppelung: Kapellmeister Adolf Daus intonierte »Die schöne Galathee«, Franz Edwin Zillich sprach den Prolog, Joachim Krause spielte die Kinoorgel, die ein für damalige Begriffe unvorstellbares Klangregister hatte. Das Instrument verfügte über 95 Register, 45 Spielhilfen und diverse Beiwerke. Die 2000 Besucher wurden nach diesen begeistert gefeierten Darbietungen durch ein exklusives Varieté-Programm zu Ovationen hingerissen, bevor sie der große Prunkfilm der Bayerischen Filmgesellschaft Emelka-Konzern »Der Günstling von Schönbrunn«, dargestellt von Ivan Petrovic und mit Lil Dagover, in den Bann schlug.

Dieser Erfolg ermunterte Riemer, auf seinem Weg fortzuschreiten. Operetten holte er nur noch von reisenden Ensembles herein. Der Erfolg war so groß, daß die Stadtwerke ihre Abendfahrpläne auf die Schlußzeiten des Thalias abstimmten und Auswärtigen Sondervergünstigungen einräumten. In einer Zeit der Krisen und Pleiten wurde das Thalia zu dem Film- und Varieté-Theater des Landes. Die bedeutendsten Filme aller Produktionsgesellschaften feierten hier ihre Erstaufführung.


Verschwenderisch

Die finanzielle Belastung war für den jungen Theaterleiter erheblich. Aber auch hier zeigte sich, daß Riemer der geborene Mann für das Schaugeschäft war: Er geizte mit jeder Mark, die er einsparen konnte, und zahlte Hundertmarkscheine, zu Tausenden gebündelt, mit einer Lässigkeit, als schöpfe er aus dem vollen. »Und wenn wir hinter den Kulissen auch sparen müssen, bis uns das Blut unter den Fingernägeln herausspritzt, was dem Publikum dargeboten wird, muß verschwenderisch in seiner Ausstattung sein, es muß strahlen vor Glanz und Pracht. Wenn das Publikum einmal merkt, daß wir anfangen müssen zu sparen, dann können wir bald dichtmachen.«

In die Millionen geht bald nach der Wiedereröffnung 1929 die Besucherzahl des Thalia-Theaters. Immer mehr junge Leute, die in ihren Turnvereinen eine Rolle spielen, die sich auf Vereinsfesten hervortun oder glaubten, sich die Welt mit ihrem Gesang erobern zu können, klopfen an die Tür des Theaterchefs. Viele junge Talente hat Riemer gefördert, einige konservieren ihren Ruhm bis heute.


Erst aber das »Abi«

Von solchen Träumen ist der hochgeschossene Obersekundaner Werner Kraft nicht geplagt, als er sich am 1. September - zwei Tage nach der glanzvollen Wiedereröffnung - ein Herz fasst und an die Tür des allgewaltigen Theaterleiters Robert Riemer klopft. Sein Vater will zwar, daß er, seinem Vorbild folgend, die grundsolide Laufbahn eines Beamten mit Pensionsberechtigung einschlägt, aber der junge Mann kennt nur ein Ziel: In diesem Theater tätig zu werden.

Riemer gefällt dieser enthusiastische Jüngling, und deshalb gibt er ihm gleich ein paar väterliche Ratschläge: »Bauen Sie erst ihr Abitur und lernen Sie vor allen Dingen Sprachen. Sprachen sind das wichtigste überhaupt. Und merken Sie sich: Von jeder müssen Sie mindestens 200 Worte aus der Umgangssprache kennen. Die genügen aber auch, um sich mit den Artisten zu verständigen. Wenn Sie hier auf einem Büro sitzen, dann müssen Sie aus der Korrespondenz sehen, ob der Artist aus New York, Mailand oder Sofia ein brauchbares Angebot einreicht, und ihm seinen Abschluß fertig machen. Oder als Inspizient den Redeschwall eines Spaniers verstehen und die richtigen Anweisungen für den Kapellmeister und die Beleuchter geben. Wenn Sie dann auch noch keine Scheu vor der Arbeit haben, dann sind Sie mein Mann.«


Voller Abenteuer

Werner Kraft setzte sich auf den Hosenboden, überredete seine Eltern und begann am 2. April 1932 eine Laufbahn, die abenteuerlicher und wechselvoller werden sollte, als er sich damals ausmalen konnte. Sie band ihn 25 Jahre an dieses Haus, ließ ihn zum Varieté-Direktor und zu einem Agenten werden, dessen Name in internationalen Artistenkreisen auch jetzt noch einen guten Klang hat.


Eine Ohrfeige

Am ersten Arbeitstag sieht es nicht gerade danach aus: Ausgeschickt, sich mit den verzwickten Räumlichkeiten des großen Hauses vertraut zu machen und sich den 64 Angestellten vorzustellen, schlenderte er, vor lauter Verlegenheit vor sich hin pfeifend, an den Garderoben vorbei zur Bühne, als ihm auch schon eine Künstlerin entgegenspringt und ihm eine schallende Ohrfeige versetzt: »Mensch, wollen Sie das Publikum aus dem Haus pfeifen?« Das war die erste, aber es sollte nicht die letzte fühlbare Begegnung mit dem Aberglauben des fahrenden Völkchens bleiben.


Harte Schule nutzte

Weniger handgreiflich, dafür aber tempogeladen und vielseitig verläuft das Volontariat: Zwei Monate erlebt er die Freuden und Leiden eines Bühnenarbeiters, der es grundsätzlich niemandem recht machen kann, einen Monat lang spürt er die Sorgen eines Inspizienten, der einfach für alles verantwortlich gemacht wird, dann sitzt er an der Kasse, um Besuchern einen teureren Platz schmackhaft zu machen, weil die billigen Karten längst ausverkauft sind, reißt selbst Billetts ab, ackert sich durch die komplizierte Buchhaltung durch, korrespondiert mit Artisten aus aller Welt , entwirft Inserate, bedient die Scheinwerfer, führt Filme vor und - sitzt als ehemaliger Kapellchef des Schülerorchesters mit seiner Geige am Kinn mitten unter den routinierten Musikern des großen Schauorchesters, um einen Krankheitsausfall zu verdecken.

Als Direktionsassistent lernt er nach dieser Allround-Lehre erst die wahren Schwierigkeiten kennen, ein Großfilm- und Varieté-Theater zu führen, das von den bedeutendsten Artisten der Welt in einem Atemzug mit der Scala Berlin, dem Palladium London und dem Zentrum der Metro-Goldmyn-Meyer New York genannt wird.

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