Harald Dülfer
Glanz und Niedergang des Thalia-Theaters
Vor dem Verhungern gerettet
Drei unvergeßliche Namen
Die 13. Folge
Die großen Nummern jagen sich in den Jahren von 1934 bis zum Kriegsausbruch im Thalia. Das Film- und Varietétheater am Islandufer übt eine magische Anziehungskraft auf das ganze Bergische Land aus. Der Name dieses Hauses hat in internationalen Artistenkreisen einen hervorragend guten Klang. Es gibt wohl kaum einen der Sterne am Himmel des Varietés, der nicht auch auf dieser Bühne strahlend aufgegangen wäre. Tollkühne akrobatische Leistungen wechseln mit Tiernummern, die in dieser Größenordnung sonst nur in einem Zirkus gezeigt werden können, mit den Späßen der berühmten Clowns und den tempogeladenen Ausstattungsrevuen.
Diese große Zeit des Varietés bleibt jedem, der sie miterlebte, unvergeßlich. Auf der Bühne steht Enrico Rastelli, der ungemein bescheidene, liebenswerte Italiener, der mit bezaubernder Grazie und unnachahmlicher Sicherheit mit neun Bällen zugleich jongliert. Das Publikum lacht Tränen über einen der beliebtesten deutschen Komiker, über Willi Bolesko, den Mann, der noch wenige Jahre zuvor als Schlagzeuger im Thalia-Orchester saß und nur daran dachte, wie er es den Größen auf der Bühne einmal gleichtun könne.
Ein echter Bolesko-Gag: Während seine Plauderei greift er zerstreut von Zeit zu Zeit in ein großes Aquarium mit Goldfischen, packt sich »Max, der wieder über diesen Witz nicht gelacht hat«, knackt ihn zwischen seinen blitzend-weißen Zähnen und verspeist kurz darauf »Moritz, weil er immer das Maul zu weit aufreißt«.
Ein Mann vom Wuppertaler Tierschutzverein ist empört. Wütend verschafft er sich Zutritt zur Direktion, die zunächst gar nicht begreift, was der aufgeregte Herr eigentlich will. Dann aber führt man ihn in die Garderobe zu Bolesko, der noch in seiner Maske vor dem Aquarium steht und seine »Mitwirkenden« liebevoll und reichlich füttert. Noch einmal greift er ins Becken und fischt das heraus, was jeder im Publikum für lebende Goldfische hielt. Lange, hauchdünne Möhrenscheiben, die unter seinen geschickten Händen noch einmal zu Goldfischen werden.
Artisten lieben es aber nicht nur, mitunter das Publikum an der Nase herumzuführen, einen diabolischen Spaß bereitet es ihnen, wenn es gelingt, den für sie »allgewaltigen« Direktor hereinzulegen. Werner Kraft bekommt es bei Joe Jackson zu spüren. Der spleenige, steinreiche Besitzer einer Riesenfrosch-Farm aus Amerika reiste als Pantomime mit einem Sketch durch die Welt, bei dem »kein Auge tränenleer« bleibt. An einem Sonntag scheint er von allen guten Geistern verlassen zu sein. Bockbeinig bleibt er dabei: »Ich habe heute keine Lust zu arbeiten, einmal wird’s wohl auch ohne mich gehen.« Und dabei ist er als Nummer sechs die Schlußnummer und Hauptattraktion der Bühnenschau!
Kraft ist in Schweiß gebadet, aber all seine Überredungskünste zerschellen am »No« des Amerikaners. Schon erklingt die Auftrittsmelodie, Joe Jackson aber bohrt nur die Hände in die Taschen seines eleganten Straßenanzugs und beginnt heimtückisch zu grinsen. Aufgelöst stürzt Kraft zur Bühne. Der Verzweiflungsruf : «Vorhang zu« bleibt ihm im Halse stecken, denn auf der Bühne steht Joe Jackson in seiner originalen Tramp-Maske und beginnt mit seiner Nummer. Zurück zur Garderobe: Dort lehnt wie zuvor – Joe Jackson.
Des Rätsels Lösung: Jackson jr., der, wohl einmalig in der Artistik, die gleiche Schau zeigt wie sein Vater, exakt und minutiös in jeder Geste, jedem Mienenspiel, gastiert im »Palladium« in London. Den in England spielfreien Sonntag benutzt er, um seinem geliebten Daddy mal eben in Wuppertal einen Besuch abzustatten, und sofort heckten beide ihren Streich aus.
Das Leben eines Artisten aber spielt sich nicht nur auf der Sonnenseite des Daseins ab. Innerhalb weniger Jahre hat der ehemalige Stallbursche des Zirkus Krone hat der ehemalige Stallbursche des Zirkus Krone mit seinen neun einzigartig schönen bengalischen Königstigern, als »Togare, der Herr der Tiger«, eine der größten Dressurnummern der Gegenwart aufgebaut. Gern folgt er dem Ruf nach Wuppertal, denn wo gibt es sonst eine Varieté-Bühne, auf der er seine wildfauchenden Bestien vorführen kann? Der Erfolg ist so groß, daß es Theaterleiter Koch nicht schwer fällt, seine Genehmigung zu einer Verlängerung des Gastspiels zu geben, obwohl das Thalia auch jetzt seinen Ehrgeiz darin sieht, jeden Freitag ein vollständig neues Programm zu servieren.
Aber auch diese zweite Woche erweist sich als noch zu kurz, Togare hat durch einen voraufgegangenen Krankheitsausfall den Anschluß an die Zirkussaison vepaßt. In den großen Stallungen, die zum Thalia-Theater gehören, ist Platz genug für seine Tiere. Aber alles Geld steckt in seiner Nummer, und die dreihundert Mark, die er im Engagement als Tagesgage erhielt, wandern rasch in die stets hungrig aufgerissenen Rachen seiner Tiger. Togare macht es nichts aus zu hungern, aber seinen Tieren darf es an nichts fehlen.
Wuppertals Tierfreunde werden rasch mobil. Sie erkennen das sich hier in ihrer Stadt anbahnende Tierdrama. In den Schulen wird gesammelt, ganze Klassen kommen mit ihren Lehrern zur Besichtigung und zahlen ihren Obulus, als besuchten sie den Zoo. Von Tag zu Tag schwillt der Spendenstrom an. Er kommt aus allen Bevölkerungsschichten. Arm und reich steuern Groschen und Scheine bei. Der Viehhof und der benachbarte Metzgermeister Lindenberg sowie viele seiner Berufskollegen liefern kostenlos Fleisch.
Dank all dieser Zuwendungen schaffte es Togare, seine Gruppe über mehrere Monate durchzubringen. Im Frühjahr endlich erreicht ihn wieder ein Zirkus-Engagement. Erneut prangt sein Name in großen Lettern an den Litfaßsäulen.
So oft er später aber auch gebeten wird, wieder einmal in Wuppertal zu gastieren, Togare winkt nur bedauernd ab. »Ich habe Angst, das Schicksal noch einmal zu versuchen.
Die Angst vor großen Tieren vergeht allen Angestellten des Hauses sehr schnell. In einem Monat fauchen die 60 Berberlöwen Kapitän Schneiders von der Bühne, erlebt das Publikum seinen beifallsumtosten Löwenritt, in einem anderen brummen gewichtige Eisbären, sehen sie, wie dem Dompteur ein Finger abgerissen wird. Dann wieder stampfen gewichtige Dickhäuter über die nur leise ächzenden Bohlen dieser Bühne, auf der einfach nichts unmöglich ist.
Die ungekrönte Königin des Tanzes ist La Jana! Als indische Tempeltänzerin in den großen Fortsetzungsfilmen »Der Tiger von Eschnapur« und »Das indische Grabmal« wurde sie weltberühmt. »Stern von Rio« setzte die Erfolgsserie fort. Jeder will einmal diese unwahrscheinlich grazile Frau mit den geheimnisvollen Augen auf der Bühne sehen. La Jana tanzt bis zur völligen Erschöpfung, um allen Verpflichtungen nachkommen zu können.
Wie hart sie um jeden Erfolg immer wieder neu ringen muß, erlebt Werner Kraft in der Kulisse des Thalia. Der Kapellmeister hat bereits das erste Einsatzzeichen gegeben, da liegt La Jana immer noch auf den Knien und betet. Die Kapelle intoniert noch einmal ihre Auftrittsmelodie, aber wieder kann sie ihr fürchterliches Lampenfieber nicht überwinden. Mit Gewalt muß sie herausgeschoben werden. Kaum prasselt aber der Beifall auf, löst sich ihre Verkrampfung. Sie weiß nichts mehr vom Publikum, vor dem sie sich gerade noch so gefürchtet hatte. Sie lebt nur noch im mystischen Zauber ihres Tanzes.
Der schicksalsschwerste Unfall in der Geschichte des Thalia ereignete sich 1939, dem Jahr, das für die ganze Welt schicksalhaft werden sollte.
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