Harald Dülfer
Glanz und Niedergang des Thalia-Theaters
Nur rissige Fassaden blieben
Die letzten großen Nummern, dann kam das Inferno
Die 14. Folge
Das Jahr 1939 wurde auch für das Thalia-Theater zu einem schicksalsschweren Jahr. Voller Entsetzen erinnert sich Werner Kraft noch heute an den tragischsten Bühnenunfall. Am 17. März proben die beiden bildhübschen blonden Schwedinnen »Elsa Sisters« eine halsbrecherische Nummer am fliegenden Trapez. Sie wollen bei dunkler Bühne arbeiten, frei über der Orchestergrube schwingend, eingefangen nur von einem Lichtkegel, der durch drei Scheinwerfer gebildet wird. Bei der Vorbesprechung mißverstehen sich offenbar Bühnenmeister und Artistinnen und wenige Stunden später gellt nur noch ein einziger Entsetzensschrei durch das Theater. Die Katastrophe ist passiert.
Die drei Scheinwerfer werden als »Verfolger« eingesetzt. Den Elsa Sisters fehlt dadurch der Orientierungspunkt. Sie sind zum ersten Mal in diesem Theater, übermüdet von der langen Anreise und nervös. Niemand gelang es, eine überzeugende Erklärung für das Drama zu finden. Lag es an einer zu lockeren Halterung, oder allein an der falschen Beleuchtung? In der Premiere stürzen beide nach einem Fersenhang aus fünfzehn Meter Höhe ab! Mit gebrochenen Armen und Beinen bleibt die eine im Orchester liegen, die andere kann mit leichten Verletzungen von der Feuerwehr aus einer Kesselpauke herausgeschweißt werden. Abrupt ist die glanzvolle Karriere beendet. Nach monatelangem schwerem Krankenlager in Wuppertal können die Schwestern nur noch für einen bürgerlichen Beruf umgeschult werden.
Mit der turbulenten Revue »Bezaubernde Fahrt« schliddert das Thalia in den kurz bevorstehenden Weltkrieg, der die skeptisch-nüchterne Nummer »zwei« trägt. Immer stärker wächst das Unterhaltungsbedürfnis der Zurückgebliebenen und der Urlauber, immer stärker durchsetzt wird das Filmprogramm mit »Durchhaltestreifen« und Tendenzfilmen, deren Machart allerdings oftmals verblüffend raffiniert ist. Der Kreis der zur Verfügung stehenden Artisten wird immer geringer. Außer deutschen Künstlern kommen nur noch die wenigen »Neutralen« und die aus den inzwischen besetzten Gebieten zum Zuge. Dennoch bewährt sich bis zum letzten Tag die Kopplung von Film und anspruchsvollem Varieté – wenn es auch nicht mehr internationales Niveau halten kann.
Mit einem einzigen infernalischen Bombenhagel wurde diese mühsam bewahrte Tradition in der Nacht zum 25. Juni 1943 unter den rauchenden Trümmern des Hauses begraben, von dem dann nur noch die Grundmauern und die rissige Fassade in den wochenlang rußverhangenen Wupperhimmel starren!
Als die fahle Morgenröte nach der Schreckensnacht über der eingeäscherten City heraufzieht, sitzen dreißig aufgeschreckte Tauben auf den Trümmern der zerstörten Musenstätte. Am Abend zuvor hatten sie noch jedem Wink ihres Herrn und Meisters Gilbert gehorcht und im Rampenlicht einer vielgefeierten Bühnenschau gestanden. Nun hockten sie verängstigt, mit angesengten Flügeln, auf den schroffen Trümmern. Nur wenige sahen an diesem Morgen der Tränen und Verzweiflung, wie Gilbert mehr als einmal sein Leben wagte, um sein ein und alles, um seine Tiere zu retten!
Monate später wirkt die Thalia-Ruine nicht minder gespenstisch, wenn sie sich bei Vollmond vor dem Abendhimmel abhebt. Inzwischen aber ist sie zu einem Dorado der Verzweifelten geworden, die aus ihren Kellern emporgekrochen sind und in einer Welt des Zerfalls beginnen, sich eine neue Behausung zu bauen. Sie können alles gebrauchen, von den kilometerlangen Leitungen bis zu den Marmorstufen.
Jahre gingen ins Land, es kam das Ende mit Schrecken, das die Schrecken ohne Ende ablöste, die Zeit des Hungerns, Hamsterns, Schutträumens, Wiederaufbauens und des Neuanfangs. Niemand dachte an das Thalia – bis auf die zurückkehrenden Künstler, die sich für Brot- und Zigarettenwährung in den Casinos der Besetzer verdingten und Werner Kraft, der durch eine eigene Künstleragentur erfolgreich versuchte, die versprengten Artisten wieder zusammenzufassen und einen neuen Start vorzubereiten.
Lebendig vor allem blieb ihm diese »Geschichte aus jenen Tagen«: »Ein Konferencier hatte als wertvollsten Besitz aus der Ausbombung seinen Bühnenfrack gerettet. Beide waren für uns oft die letzte Rettung. Er hütete das kostbare Requisit wie seinen Augapfel. Niemand durfte seinen Frack auch nur berühren. Nur einmal vergaß er alle Vorsicht. Das war zwei Tage vor Weihnachten 1947 in einer englischen Kaserne auf dem Freudenberg. Der Küchenbulle hatte die Künstler und mich als ihren Manager in die Kantine geführt. Wir glaubten uns in ein Schlaraffenland versetzt. Riesige Bleche mit Kuchen und Gebäck standen da vor uns und der Herr über diese Schätze erklärte: Now eat.« Wie hungrige Wölfe stürzten wir uns über die Herrlichkeiten, aber nach einer Viertelstunde brachte keiner mehr einen Bissen herunter. Großzügig meinte der Koch daraufhin: »Packt ein, was ihr mitnehmen könnt.«
Ein solches Angebot war damals weiß Gott einmalig. Nur hatten wir nichts davon, denn keiner besaß auch nur die schäbigste Aktentasche. Er zerrte seinen Frack aus dem Koffer, stopfte Pasteten, Kuchen, Mandeln und Konfekt hinein, so wie er es gerade von den Blechen herunterschaufeln konnte, und ließ sich anschließend selig lächelnd den Frack verregnen, weil er wußte, an diesem Abend würde sich seine Familie endlich einmal wieder richtig satt essen können
Noch keine zwei Jahre aber, nachdem der radikale Währungsschnitt die frischgeprägte »Deutsche Mark« zur harten internationalen Kaufkraft-Währung werden ließ, entdeckte der Hamburger Großkaufmann Robert Bartholomay seine Liebe für die kärglichen Überreste des einst international so vielgerühmten Thalia-Theaters. Am 10. Februar 1950 stimmte das Wuppertaler Stadtparlament dem Wiederaufbau zu. Am 20. September des gleichen Jahres zog der Hamburger als Herr im »Weißen Haus am Islandufer«, wie er es poetisch nannte, ein. Ein neuer Baurekord war aufgestellt worden.
Innerhalb von sechs Monaten ist der Wiederaufbau nach modernen Gesichtspunkten, aber unter Einhaltung der alten Stilmerkmale abgeschlossen. 1860 Plätze weist das Haus jetzt auf. Die 120 qm große Bühne besitzt einen 20x20 m hohen Bühnenausschnitt, einen » Eisernen Vorhang«, Konterzüge für 30 Dekorationen, einen 40 m hohen Schnürboden und einen Orchesterraum mit hydraulischem Hebewerk, so daß es möglich ist, die Musiker bis zur Bühne hoch zu hieven oder die Bühne bis zum Zuschauerraum hin zu vergrößern. Glanzstück ist die Walker-Orgel mit fast 5000 Pfeifen, über 70 Registern und drei Manualen. Sie ist die größte Kino- und Konzertorgel des Kontinents, ein neues modernes Wunderinstrument, dessen Klangfülle die Besucher immer wieder begeistert.
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