Harald Dülfer
Glanz und Niedergang des Thalia-Theaters
Ein Zauberer am Mikrophon
Rudi-Rauher-Sendungen fegten Geschäfte leer
Die achte Folge
Es ist 1925 ein leichtes, im großen Komplex der Thalia-Gastronomie eine Rundfunkanstalt zu etablieren. Der Festsaal hatte längst den Glanz verloren, durch den er sich 1906 bei der Eröffnung auszeichnete. Die Zeit der rauschenden Bälle ist vorbei.
Für Theaterleiter Dr. Eckert ist die Vermietung dieser Räume und seine Mitarbeit an der neuen Institution gleichbedeutend mit der Erschließung einer wichtigen zusätzlichen Einnahmequelle, denn es wird immer schwieriger, die großen Summen hereinzuspielen, die der aufwendige Operetten-Spielplan allmonatlich verschlingt.
Große Umbauten sind nicht nötig, da der technische Aufwand zur Berieselung der ersten noch mit Kopfhörern bewaffneten Rundfunkenthusiasten minimal ist. Kapellmeister Max Alter, der das Orchester der »Sendestelle Elberfeld der Westdeutschen Funkstunde AG« aufbaute, bewies beim Engagement seiner Musiker eine gute Hand. Unter den ersten und treuesten befanden sich der bekannte Wuppertaler Freiballonfahrer Ewald Klüsener (Klavier), der heute das Orchester des Barmer Sängerchors leitet, und Lutz Goebel (Geige), langjähriger Konzertmeister des Städtischen Orchesters. Sie erlebten 1926 die ersten Mikrophon-Kämpfe, die Rudi Rauher auszutragen hat, der wohl populärste Sprecher, der als »Vohwinkeler Jung« vom Thalia aus den Absprung in eine Karriere fand, die eng mit der Entwicklung dieses Massemmediums verbunden bleiben wird.
Rudi Rauher ist ein Hansdampf in allen Gassen. Er muß sich um Kasse und Buchhaltung kümmern, die Nachrichten sprechen, Industrie- und Geschäftsreportagen herunterspulen, in Hörspielen und Operetten mitwirken und zwischendurch mit seinem eigenen Schnellverkehrsmittel, dem chromblitzenden Fahrrad zur Börsenfunkstelle strampeln, um sich die letzten Notierungen zu holen.
Improvisation ist damals alles. Die Übertragung von Schallplatten erfolgt noch mit Hilfe eines ganz gewöhnlichen Grammophons. Es hängt vom Geschick des »Drehers« ab, ob Caruso als unvorhergesehene Zugabe zu seiner Glanzarie das Quietschen der Kurbel erhält, oder ob das leidige Aufziehen glücklicherweise in jene Passage fällt, da es vom Orchester »erschlagen« wird.
Schon in dieser Elberfelder Zeit zeichnet sich die spätere große Popularität Rudi Rauhers ab. Zu Tränen gerührt sind die Zuhörer, die ein ganz von Kindern gestaltetes Weihnachtsfest im Senderaum miterleben und sich mit darüber freuen, wie diesen Kindern die so lange entbehrte Schokolade und der Kuchen schmecken. Die Arbeit mit Kindern wird für den jungen Rundfunksprecher zur Domäne. Wie ein richtiger Chefkoch, die halbmeter hohe Kochmütze auf dem schon damals weidlich gelichteten Schädel und das Mikrophon an Stelle des Kochlöffels in der Hand, begeisterte er Tausende durch seine quicklebendigen Kochstunden, die er mit den Allerkleinsten abhält.
Um über den Senderaum hinaus einen echten lebendigen Kontakt mit der rasch wachsenden Hörerschaft herzustellen, werden nach Überwindung der Anfangsschwierigkeiten bereits einige Sendungen – bunte Nachmittage – öffentlich gesendet.
Diese Möglichkeit erschließt sich jedoch erst voll nach 1929, als Rudi Rauher als Sprecher an den Sender Köln verpflichtet wird. Die Elberfelder Übergangszeit ist damit zu Ende. Die Ausdehnung des Sendebereichs und die weiter fortschreitende Umstellung vom primitiven Kopfhörer auf den zunächst noch verhältnismäßig kostspieligen Rundfunkempfänger mit Lautsprecher, zwingen zu erheblich größeren Senderäumen und zu einer Ausdehnung der Sendezeit. Die Erfahrungen im Thalia-Theater kommen den neuen Herren des Rundfunks dabei zugute, denn schon im Elberfelder Sender wurden anspruchsvolle Sendungen von nachmittags bis kurz vor Mitternacht gestaltet und echte Pionierarbeit geleistet.
Nun kann Rudi Rauher bergische Gründlichkeit und Freude am Experimentieren mit rheinischer Großzügigkeit verbinden. Erfolg reiht sich an Erfolg. In wenigen Jahren ist Rauher der Liebling aller Rundfunkhörer.
Ohne seine Ermahnungen bekommen die Mütter ihre Kinder morgens nicht mehr aus dem Haus: »Habt ihr euer Schulbrot auch eingepackt, kein Buch, kein Heft vergessen? Seht euch schnell den Stundenplan noch einmal durch! Habt ihr auch nicht mit Seife gespart, den Hals und die Ohren gewaschen, die Zähne schön geputzt und tüchtig gegurgelt?« Und nach einer kleinen Pause – von der er aus ungezählten Briefen weiß, daß sie in jeder zweiten Familie benutzt wird, um einen Generalappell abzuhalten, als stünde der längst zur Arbeit geeilte Vater selbst daneben – »dann marsch, marsch auf den Weg! Es ist höchste Zeit, wenn ihr nicht zu spät un die Schule kommen wollt.«
Frau Rauher wahrt heute das Erbe ihres Mannes, besorgt sein schmuckes Haus in Köln, den Garten, an dem er so hing, und verwöhnt seinen letzten Lieblingshund. Immer wieder kramt sie in den schon leicht vergilbten Zeitungsausschnitten, sortiert die Fotos und Briefe und denkt an jene Jahre, in denen sie seine liebste Mitarbeiterin sein durfte.
Ein Brief fällt ihr in die Hand, in der eine Frau schreibt, wie dankbar sie dem allmorgendlichen Sprecher sei, der ihr so sehr bei der Erziehung ihres vaterlosen Sohnes helfe, und wie manches Mal der Junge bei Rauhers Ermahnungen in kindlicher Unbefangenheit sage: »Hörst du? Nun spricht Vati!«
Die Elberfelder Rundfunkzeit im Thalia-Theater ist nicht nur für den 1958 verstorbenen Rudi Rauher unvergeßlich gewesen, sie ist es heute noch für seine in Köln lebende Frau. Hier in Elberfeld war »Rudi« ihr erster und heißester Jungmädchenschwarm.
Rudi Rauhers reich erfülltes Leben könnte Bände füllen: Rudi Rauher ist der erste Reporter, der mit dem Mikrophon im Zeppelin ist, der erste, der eine Segelflugreportage für den Funk macht und über eine Ballonfahrt berichtet. Als einer der »drei frohen Gesellen vom Reichssender Köln“ gehört ihm jeder Samstagnachmittag. Kurz vor 16 Uhr sind die Straßen und Geschäfte menschenleer. Am »Frohen Samstagnachmittag« hängen Millionen am Lautsprecher:
»Achtung!
Achtung! Wir beginnen: Ist die Milch vom Herd? Et Badewasser
abgestellt? - Der Sonntagskuchen aus dem Backofen? - Kann nichts
verderben? - Überlaufen? Anbrennen? - Na, dann können wir
ja anfangen. Frohen Samstagnachmittag zusammen!« Theo Rausch
zieht die Blende von seiner »Laterna magica«, und Rudi
Rauher , Karl Wilhelmi und Hans Salcher beginnen zur
Leierkastenmelodie ihren Moritatensong: »Wir wollen jetzt in
lauter bunten Bildern, was in der Welt geschah, in kurzen Worten
schildern.«
[Noch nach achtzig Jahren kann meine Tante (90) diesen Trailer vorsingen! ED]
Nach dem Krieg fand Rudi Rauher einen neuen Start beim Rundfunk, und wieder zeigte sich die Liebe zu seiner Vaterstadt bei den amüsanten Zoo-Reportagen anläßlich der traditionellen Übertragung der Mittwochsnachmittagskonzerte. Seine größte Freude war es dabei, seine Gefährten aus der Thalia-Zeit des Rundfunks, Max Alter, als Dirigenten ankündigen zu können. Rauher hatte seine berufliche Erfüllung beim Funk gefunden, Alter beim Theater. Bis 1957 hielt er den Städtischen Bühnen Wuppertal die Treue.
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