Harald Dülfer

Hoppla, jetzt komm ich!
Ein halbes Jahrhundert Kintopp in Wuppertal

Die große Sensation: CinemaScope
Besucher kreischten

18. Fortsetzung


Wie eine Sturzflut brach die dritte große Revolution über die gerade erst 60jährig Filmgeschichte Wuppertals herein. Drei Jahre sind seitdem vergangen, und schon hat sich »CinemaScope« die Kinopaläste erobert. Das »plastische Sehen« ist Wirklichkeit geworden. Während diese jüngste Entwicklung Amerika in einen ähnlichen Taumel der Begeisterung, der Börsenspekulationen und der neuen Kinostürme stürzte, wie der Ausbruch des Tonfilms, verlief die Revolution hier wohltemperiert. Der Erfolg aber blieb nicht aus: CinemaScope hat sich bereits einen festen Platz erobert, ohne allerdings, wie seinerzeit der Tonfilm, die schon »alte« Form des Lichtspiels zum Absterben zu bringen.

Die dritte Revolution warf ihre Schatten voraus. Hans Gille vom »Capitol«, ein Freund technischer Experimente, überraschte seine Besucher im Juni 1953 mit dem ersten 3-D-Film, dem »Mann im Dunkeln«. Wer diese Premiere erlebte, vergißt sie nie.


Mit der Brille

Die Überraschung begann an der Kasse: Zur Eintrittskarte wurde jedem eine Brille in die Hand gedrückt. Kaum saß man im bequemen Kinosessel, da begann der Spektakel: Mit einer Achterbahn rasten die Menschen direkt ins Parkett, eine Spinne kroch riesengroß vom Rand des Bildes weg und angelte mit ihren dürren Beinen zum Balkon hinauf, ein Arzt schleuderte das blitzende Skalpell in die Menge, und eine Schütte Wasser sprühte den Besuchern ins Gesicht. Der plastische Effekt war einfach überwältigend. Männer mit starken Nerven waren schweißgebadet, Frauen umklammerten die Arme fremder Stuhlnachbarn und kreischten erschrocken auf. Ängstliche rissen die Brille von der Nase – und sahen plötzlich gar nichts mehr.


Die Kunst erschlagen

Noch »plastischer" ging’s nicht. Und plötzlich war das gute alte Kintopp wieder ausgebrochen. Die Klamotte und der Nervenkitzel feierten Triumphe. Die Technik hatte die Kunst erschlagen. Aber jedem wurde deutlich, welch ungebärdige Kraft in der neuen amerikanischen Revolution pulsierte. Dabei war nichts anderes geschehen, als daß die Filmszenen mit zwei Kameras aus verschiedenen Blickwinkeln aufgenommen worden waren. Die Polarisationsbrille ließ die auf die Leinwand geworfenen Bilder zu einem zusammenfließen und schuf den perspektivisch-räumlich-plastischen Effekt. Es war, als ob der Kinobesucher mitten in der Szene stünde. Und doch, welch ein Aufwand war nötig – acht Mann mußten im »Capitol« zusätzlich eingestellt werden, um die Brillen auszugeben, nach der Vorstellung wieder einzusammeln und zu desinfizieren. Trotzdem war der »Bruch« erheblich. Für jede Brille erhielt der »Brillenverleiher« (ein neuer kurzlebiger Beruf) 30 Pf. Der Theaterbesitzer schloß eine »Brillen-Versicherung« ab. Anschließend kamen dann noch empfindliche Besucher und verlangten Kopfschmerztabletten.


Nur vier Monate später

Da überstürzten sich die neuen Meldungen. Die 20th Century Fox kaufte das vor etlichen Jahren bereits patentierte Aufnahme- und Ton-System des französischen Professors Henri Chrétien auf und stellte am 1. Oktober 1953 die Produktion auf »CinemaScope« um. Der Großbild-Raumfilm war der entscheidende Sieg in letzter Minute über die wachsende Konkurrenz des Fernsehens. Am 16. September 1953 wurde mit größtem Erfolg der erste CinemaScope-Film »Das Gewand« im New Yorker »Roxy«-Theater uraufgeführt. Bei der europäischen Erstaufführung in Paris war Hans Gille dabei. Er griff mit beiden Händen zu. Und nur vier Monate später startete er das neue Verfahren am 15. 1. 1954 im »Capitol«. Sein Theater war das vierte in Deutschland, das den Versuch wagte. Kurt Pretschner schloß sich in seinem »Fita« sofort an.

Brillen gab es nicht mehr. Auf einer 4 mal 10 m großen »Wunderspiegelwand« breitete sich ein ungewöhnlich großes plastisches Panorama aus. Der Zuschauer wurde förmlich ins Bild »gezogen« und sein Auge wurde trunken von der Fülle der neuen Eindrücke, die auf ihn einstürzten. Das alles konnte erreicht werden durch die leicht gebogene Riesenleinwand. Chrétien hatte eine Vorsatzlinse für die Aufnahmekamera geschaffen, die Frontal- und Seitenbild zusammenrafft. Sie erhielt den Namen »CinemaScope«. Weitwinklige Szenen werden auf einen normalen 35-mm-Filmstreifen zusammengedrängt und durch eine Ausgleichslinse bei der Wiedergabe entzerrt. Es ist wie auf dem Rummelplatz: Stellt man dem Zerrspiegel einen anderen mit ausgleichenden Eigenschaften gegenüber, so nehmen alle Gestalten wieder normale Form an.

51 000 DM kostete die Umstellung auf CinemaScope im »Capitol«. Und wie war das Echo? »Der Töneschwall zerrt an den Gehörnerven«. »Das Auge muß ständig hin und herwandern, um mit dem Panoptikum fertig zu werden«, so hieß es von der Technik. Aber die Ablehnung galt mehr noch dem Film: »Süßlich-sentimental«, »pseudo-realistisch« und »Schlafzimmer-Öldruck-Romantik«. Hans Gille hätte am liebsten allen Kritikastern den Schierlingsbecher gereicht. Aber entmutigen ließ er sich nicht. Denn die Kinderkrankheiten wurden überwunden: CinemaScope brachte Filme, die technisch und künstlerisch überzeugten. Der dreidimensionale Film siegte auf der ganzen Linie.

Zahlreiche Wuppertaler Lichtspielhäuser haben sich auf das neue Verfahren umgestellt. Die unblutige dritte Revolution in der Filmgeschichte ist auch in Wuppertal überstanden. Theaterbesitzer und Kritiker rauften sich zusammen im gemeinsamen Kampf um den gutenFilm. Denn darum geht es, gleich wie die technische Form auch heißt. Wie schwer dieser Kampf heute ist, das schildert die letzte Folge dieses Berichts.

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